Alejandro ist (wie Valir) einer meiner Rollenspielkampagnen-Helden – und der musste natürlich auch eine passende Hintergrundstory haben. Warum der Kutscher aus Almada sich plötzlich für Archäologie interessiert, kann hier nachgelesen werden …
Es war einer dieser Tage gewesen. Er hatte es Selenio wieder in keiner Weise recht machen können. Natürlich: Selenio zeigte sich aus Prinzip nie zufrieden, und bei Alejandro schon gar nicht, aber es gab Tage, wo er es nicht einfach bei Nichtbeachtung beliess, sondern seinem Ärger anderweitig Luft machen musste. Schlecht gelaunt strich sich Alejandro über die roten Striemen auf seiner Wangen. Oh, er würde es ihm schon heimzahlen.
Irgendwann.
Als Sohn des Kutschers hatte er auf dem almadanischen Gutshof nicht gerade viel zu sagen, schon gar nicht gegenüber Selenio, dem Besitzer des Gehöfts. Mit seinen 18 Jahren nur wenig älter als Alejandro genoss er seine Rolle als Gutsbesitzer ausserordentlich – und liess dies seine Untergebenen spüren. Selenios Vater war angenehmer gewesen – bei diesem reichte es, ihm nicht zu nahe zu kommen wenn er angetrunken war. Glücklicherweise war seine Alkoholfahne von weitem zu riechen, so dass man ihm ohne Probleme aus dem Weg gehen konnte.
So musste sich Alejandro an diesem warmen Sommerabend damit begnügen, in die Scheune zu flüchten. Immer und immer wieder liess er seine Peitsche auf die Strohpuppe knallen. Dabei stellt er sich vor, dass diese Puppe Selenio sei – sie sah ihm eigentlich ziemlich ähnlich, befand er – doch dieser Gedanke liess die Wut in ihm wieder anschwellen, und wenn er wütend wurde, wurde er ungenau, wie er zu seinem Bedauern bemerkte. Also liess er es bleiben, und drosch weiter auf die Strohpuppe ein, unermüdlich, bis ihm der Schweiss in Strömen über den Rücken lief. Er würde erst aufhören, wenn die Strohpuppe in Fetzen war. Dann würde seine kalte Wut verraucht sein.
Ein Scharren liess ihn aufhorchen. Er wandte sich um. Im schwachen Licht der der Dämmerung sah er eine ihm wohl bekannte Silhouette.
«Joaquín! Wie lange bist du schon hier?»
Ein leises Lachen. «Lange genug, um zu wissen, dass dich Selenio heute kräftig geschunden haben muss.»
Alejandro schnaubte bloss und wandte sich wieder seiner Strohpuppe zu.
«Weisst du, manchmal glaube ich, es hat mit der Madascheibe zu tun. Jedesmal, wenn sie voll ist, wird er unleidig. Wie ein läufiger Hund», fuhr Joaquín fort.
«Dann sollte ich vielleicht die Madascheibe aus dem Himmel knallen», lachte Alejandro bitter auf, während er erneut zuschlug und eine Handvoll Stroh zu Boden segeln liess. Joaquín schmunzelte – und verschwand aus der Toröffnung. Vom goldenen Licht, das noch vor einer halben Stunde durch die Türöffnung geströmt war, war inzwischen nur noch wenig geblieben. Die Strohpuppe war in der Dämmerung immer schlechter zu erkennen.
Alejandro wollte schon Licht zu holen, als er bemerkte, dass es in der Scheune wieder hell wurde. Er lächelte. Joaquín musste eine Fackel holen gegangen sein! In einer fliessenden Bewegung drehte er sich um die eigene Achse und liess seine Peitsche knallen, um Joaquín zu necken.
«He! Bist du verrückt?» Joaquín war einen Schritt zurückgesprungen. «Was soll das?»
«Ach, komm schon – ich hätte dich nicht einmal berührt!» versuchte Alejandro seinen Freund zu beschwichtigen.
«Stimmt nicht – wenn ich nicht zurückgesprungen wäre – oh, choder … schnell!»
Auf dem Boden lag die Fackel, die Joaquín mitgebracht hatte. Auf herumliegendes Stroh gefallen. Nun hatte es Feuer gefangen. Und begann, sich auszubreiten. Schnell. Hastig versuchte Joaquín, die Flammen auszutreten, doch diese schienen immer einen Schritt weiter zu sein als er.
«Wir müssen es ersticken!». Alejandro sah sich um: Ausser Stroh gab es hier nichts.
«Wir brauchen Wasser!»
Für einen kurzen Moment sahen sie sich an, dann rannten beide los, hinaus auf den Hof zum Brunnen, fassten einen Eimer und füllten ihn mit Wasser, und zurück zur Scheune. Doch zu spät. Aus dem Feuer war ein Inferno geworden. Zwei Eimer Wasser? Lächerlich.
Alejandro brach der kalte Schweiss aus. Joaquín begann zu rufen: «Feuer! Feuer! Hilfe!». Doch dann hörte Alejandro etwas anderes. Ein Wiehern.
«Die Pferde!» Die Scheune und der Pferdestall waren zusammengebaut; unverzeihlich, wenn den Pferden etwas geschehen würde. Er rannte los, in entgegengesetzter Richtung der Knechte und Mägde, die über den Hof strömten, und umrundete die Scheune. Er musste die Pferde retten. Um jeden Preis. Rahja stehe ihm bei …
Er riss das Stalltor auf und stürmte hinein. Die Pferde waren schon unruhig. Hastig begann er, die Boxen zu öffnen und die Pferde nach aussen auf die Wiese zu treiben. Durch die Verbindungstür fühlte er die Hitze, die ihm entgegenschlug. Er knallte sie zu, wohl wissend, dass ihm dies nicht viel mehr Zeit gab. Die Holztüre würde dem Feuer nicht allzu lange stand halten können. Durch die Ritzen begann Rauch zu ziehen, der ihm den Atem schwer machte. Die Pferde begannen, panisch zu wiehern und in ihren Boxen zu steigen. Wann immer er eine Box öffnete, musste er zusehen, dass er sich schleunigst ausser Reichweite der Hufe begab. Es schien, als hätte sich Dere in die Niederhöllen verwandelt. Das wütende Fauchen des Feuers, die Schreie der Männer und Frauen, die versuchten, das Feuer zu löschen, der beissende Rauch, das Wiehern der Pferde – das alles vermischte sich zu einer betäubenden Kakophonie des Untergangs. Er wagte gar nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn das alles vorüber sein würde. Wenn es denn einmal vorüber gehen würde …
Alejandro sah sich in den immer dichter werdenden Rauchschwaden um. Die Pferde waren draussen – doch die Wände hingen voll mit Zaumzeug und Werkzeugen. Vielleicht konnte er noch etwas davon retten. Er riss eines, dann ein zweites von den Haken und rannte hinaus, um es ins Gras zu legen. Er atmete tief ein. Die Luft im Stall war zum Ersticken. Doch es liess sich nicht vermeiden: er musste noch einmal hinein.
Inzwischen sah er kaum ein oder zwei Schritt weit, so dicht war der Rauch geworden. Er hustete, seine Augen brannten. Er musste hinaus. Doch der Eingang war von einer Gestalt versperrt.
«Hier steckst du also. Das wird dir jetzt auch nichts mehr bringen», ätzte ein ölige Stimme. Alejandro schluckte.
«Herr … die Pferde sind sicher, und ich bin daran, das Zaumzeug hinaus –»
«Die Pferde?» unterbrach ihn Selenio. «Was bringen uns die Pferde, wenn wir nichts haben, womit wir sie füttern können?»
Langsam trat er näher. In der Hand hielt er etwas, aber Alejandro konnte nicht genau ausmachen, was es war. Ein Stück Holz? Eine Fackel? Etwa sogar die Fackel?
«Es war ein Unfall! Ein Versehen! Es tut mir leid, ich …» Alejandro keuchte, hustete, der Rauch nahm ihm den Atem, er wollte hinaus, doch Selenio versperrte ihm den Weg.
«‘Es tut mir Leid?‘» Selenio lachte gehässig. «Leid kann es dir später tun. Ich weiss, du hast mir immer wertvolle Dienste getan und du warst mir immer treu ergeben … so wird es sicher niemand verwundern, dass du beim heroischen Versuch, meine Pferde zu retten leider …»
Da erkannte Alejandro, dass Selenio kein Holzscheit in den Händen hielt. Keine Fackel. Eine Schwertscheide, aus der Selenio ein Schwert zog. Hinter sich hörte Alejandro, wie die hölzerne Verbindungstür in sich zusammenfiel und das Feuer in einem wilden Sturm in den Stall hineinwirbelte. Er hatte beide Hände voll mit den Zaumzeugen. Seine Peitsche musste irgendwo draussen liegen. Er konnte nicht zurück. Selenio versperrte ihm den Weg nach vorne. Und er sah inzwischen im dichten Rauch kaum mehr einen Schritt weit.
«… Erstickte und verstarb», beendete Selenio seinen Satz. «Oder von einem herunterfallenden Balken erschlagen wurde. Mir egal. Borons Wege sind unergründlich.»
Es krachte hinter Alejandro, und eine Wolke aus Funken umfing die Kontrahenten. Selenios Augen glitzerten, als er sein Schwert zum Schlag aufzog. Das kann es nicht sein, dachte Alejandro. Nicht so. Er kniff die Augen zusammen, den Schlag erwartend.
«Alejandro? Bist du da?»
Alejandro blickte auf. «Papá? Ich bin hier!» Triumphierend sah er Selenio an. Dann fügte er an: «Mit Selenio!»
Selenio liess sein Schwert sinken.
«Ich bin noch nicht fertig mit dir. Du erhältst deine Strafe schon», zischte er Alejandro zu, packte ihm am Arm und zog ihn hinaus. Alejandro hätte ihn locker abschütteln können, war er doch zu Selenios Leidwesen einiges stärker als dieser, doch er liess es dabei bewenden. Sollte er doch seine Freude haben.
Rüde stiess Selenio im Hof Alejandro zu Boden. Schmerzhaft bohrte sich der grobe Kies in Alejandros Fleisch, doch er liess sich nichts anmerken. Die Scheune brannte lichterloh. Im flackernden Licht des Feuers verzerrte sich Selenios verrusstes Gesicht zu einer hässlichen, rachsüchtigen Fratze; ein blutrünstiger Dämon, bereit, Alejandro jeden Augenblick in Fetzen zu reissen.
Alejandro begann, sich mühsam wieder aufzurichten. Selenio sah ihm spöttisch lächelnd zu, um ihn mit einem Faustschlag wieder auf den Boden zu senden. Dann winkte er einen der Knechte heran.
«Bring mir einen Strick!» herrschte er ihn an. Der Knecht sah ihn entgeistert an.
«Aber Herr …», hob er an und gestikulierte zu der brennenden Scheune.
«Einen Strick, habe ich gesagt!» herrschte ihn Selenio an. Der Knecht nickte und rannte davon, um wenig später mit einem Strick wieder zu erscheinen. Ohne ein Wort des Dankes riss ihm Selenio diesen aus der Hand und begann, Alejandros Hände und Füsse zusammenzubinden. Dann schlug er ihn ins Gesicht, bis dieser wieder aufwachte und machte ihn vor sich knien. Alejandro hätte schreien mögen, so sehr schmerzten ihn die kleinen Steinchen, doch er biss die Zähne zusammen. Er würde vor Selenio keine Schwäche zeigen, und sollte er blutige Beine davon tragen.
Es sollte fast zwei Stunden dauern, bis die Mägde und Knechte den Brand unter Kontrolle hatten und löschen konnten. Und während dieser Zeit liess Selenio Alejandro neben sich knien. Alejandro liess sich nichts anmerken. Als das Feuer gelöscht war, rief Selenio die Bewohner des Gutes zu sich. Sie stellten sich in ein grosses Rund um Selenio und Alejandro herum. Müde sahen sie aus, ihre Gesichter verrusst, durchzogen von hellen Striemen, die ihr Schweiss hinterlassen hatten. Sie wollten nicht mehr als auf ihre Strohsäcke schlafen gehen. Doch das liess Selenio nicht zu. Er wollte ein Exempel statuieren. Er wollte ein für alle Mal beweisen, wer hier das Sagen hatte. Er hatte es so satt, sich von den neunmalklugen Knechten und vorlauten Mägden auf der Nase herumtanzen zu lassen.
Er würde ein Exempel statuieren. Oh ja. Ein drastisches, vielleicht. Aber ein bitter nötiges. Er lächelte.
«Untergebene! Zu euren Füssen kniet der Schuldige dieser unentschuldbaren Tat! Er ist für diesen Brand verantwortlich, er hat Leib und Leben von Mensch und Tier bedroht. Und ihr, die ihr nun arbeiten musstet, werdet mit mir übereinstimmen, dass ein solches Vergehen bestraft werden muss.»
«Aber Selenio», fiel im Joaquín ins Wort. «– Herr, ich habe die Fackel fallen lassen, nicht Alejandro!»
Selenio sah ihn verärgert an. «Schweig. Ich habe den Schuldigen – und er steht vor mir. Durch sein unachtsames Verhalten hat er uns alle in Gefahr gebracht. Wäre der Beleman etwas stärker, würde jetzt möglicherweise die gesamte Hügelflanke in Flammen stehen, würden Felder und Weinberge brennen. Als Gutsbesitzer ist es mein Recht und meine Pflicht, ihm eine Lektion zu erteilen, die er nicht so schnell vergisst. Angesichts der Schwere seiner Tat und um uns alle vor weiteren Unfällen zu schützen,» – er legte eine kleine Pause ein – «verurteile ich Alejandro zum Tod durch das Schwert, mit sofortiger Wirkung!»
Die Bewohner des Gutes mochten müde sein, doch damit hatte Selenio ihre Aufmerksamkeit wieder. Gemurmel hob an, und es war nicht freundlich. «Caldaios hätte das nie gemacht! Ist er denn von allen Göttern verlassen? Was masst er sich an!» war zu hören, und wer es sagte, achtete darauf, dass er wieder in der Masse verschwand, bevor ihn Selenio ausmachen konnte. Alejandro sagt nichts. Er biss seine Zähne aufeinander. Er würde nicht um sein Leben winseln, oh nein. Da hatte sich der Herr Gutsbesitzer aber verrechnet. Er hob seinen Kopf und sah Selenio herausfordernd an. Er wusste, dass er damit Selenio rasend machen würde. Erneut schlug Selenio ihm voller Wut ins Gesicht. Alejandro spürte den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund. Doch er senkte den Kopf nicht. Nicht vor Selenio.
«Selenio!»
Alejandros Vater, Jacopo, trat vor und stellte sich zwischen Selenio und Alejandro.
«Die Schuld meines Sohnes mag schwer wiegen, er hat viele Menschen in Gefahr gebracht – doch dafür wollt ihr ihn töten? Er ist jung, er hat noch sein ganzes Leben vor sich. Wenn ihr jemanden mit dem Tode bestrafen wollt, so nehmt mich an seiner Stelle. Ich bin ein alter Mann, dessen Zeit vielleicht schon bald zu Ende ist. Ich nehme die Schuld meines Sohnes auf mich.»
Alejandro sah entgeistert an seinem Vater empor. «Was tust du da? Papá!»
«Schweig, Alejandro. Das ist nun eine Sache zwischen mir und Selenio.»
Damit hatte Selenio nicht gerechnet. Es gelang ihm kaum, seine Überraschung zu verbergen. Und er wusste, dass er sich auf diesen Handel nicht einlassen konnte. Zähneknirschend wandte er sich unter Jacopos bohrendem Blick ab. Er hatte verloren, ein weiteres Mal, und er wusste es. Und alle, die zusahen, wussten es ebenfalls. Ihm blieb nichts anderes, als den Schaden zu begrenzen. Er begann wieder zu sprechen.
«Nun, ich will Gnade walten lassen. Unter einer Bedingung. Alejandro darf erst wieder auf dieses Gut zurück, sobald er den sagenhaften Stab von Al-Branhar mit sich bringt. Der Stab von Al-Branhar soll der Legende nach die Kraft besitzen, Feuer zu verhindern; wahrlich eine wünschenswerte Eigenschaft, würde unser Alejandro dann wieder unter uns weilen. Solange du diesen Stab nicht hast, bist du vom Gut verbannt. Sieh zu, dass du mir am morgigen Tage nicht mehr unter die Augen kommst.» Selenio lächelte Alejandro böse an, drehte sich um und stampfte zurück zum Hauptgebäude. Alejandro sah ihm nach, nur mühsam seine Wut unterdrückend. Doch er sagte nichts. Die Bewohner verteilten sich. Jacopo zog ein Messer aus dem Gürtel und schnitt Alejandros Fesseln auf. Alejandro richtete sich mühsam auf, die Beine blutig und kaum willig, ihn zu tragen.
Er sah seinen Vater an.
«Hättest du das wirklich für mich getan, für mich gestorben?»
Jacopo lächelte schief.
«Der junge Herr spuckt bloss grosse Töne, aber besonders mutig ist er nicht. Aber er ist hinterhältig. Besser, du packst deine Sachen und gehst morgen zeitig los. Wer hätte gedacht, dass dir die Welt plötzlich so offen steht?»
«Papá, ich …»
«Schsch …»
Und Jacopo umarmte seinen Alejandro, mit einem Gesichtsausdruck, den Alejandro in all den folgenden Jahren nie ganz verstand, eine Mischung aus Verschmitztheit und Melancholie, und dann löste er sich, wandte sich um und verliess den Hof.
Bloss ein einsamer Strahl der Mada drang in Alejandros Kammer, als er sich daran machte, seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Alejandro brauchte kein Licht, die Kammer war so klein, dass er sich auch blind darin zurechtgefunden hätte. Und viel war es nicht, was sich auf seinem Strohsack ansammelte. Dann hörte er ein Knarren der Dielen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es war.
«Was soll das überhaupt sein, der Stab von Al-Branhar? Den hat er doch bloss erfunden!» flüsterte Joaquín auf ihn ein. Alejandro zuckte mit den Schultern.
«Gut möglich. Aber es kümmert mich nicht. Ich werde ihm den Stab bringen.»
«Du willst ihm - eine Fälschung bringen?»
«Nein. Ich bringe ihm den Stab. Den echten. Dere ist gross, irgendwo muss es ja so etwas geben, oder? Die Götter werden mich nicht alleine lassen.» Er begann, seine Sachen in einen Beutel zu stopfen. Energischer als eigentlich nötig gewesen wäre.
«Alejandro …»
Und dann noch mal: «Alejandro!»
Alejandro hielt inne und wandte sich um. Der Schein der Mada fiel direkt auf Joaquíns Gesicht, und liess es leuchten.
Er spürte Joaquíns Finger auf seinem Arm, rau, wie die Finger eines Sohn des Schmiedes sind, aber leicht wie Federn. Sie waren da, und wieder weg … und dann an seiner Wange, wo ihn Selenio geschlagen hatte, sie strichen darüber, und es schien, als würde der Schmerz vor diesen Fingern weichen und vergessen gehen.
«Versprich mir, dass du zurückkommst», flüsterte Joaquín. «Komm zurück, oder ich komme dich suchen und schlag dich tot, wenn ich dich finde». Er liess seine Hand sinken. Wandte sich abrupt um. Verliess das Zimmer. Und Alejandro starrte ihm nach, hinein in die Dunkelheit, als könnte er dort noch Joaquíns Umrisse ausmachen. Doch dort war niemand. Niemand mehr.
Alejandro bekam in dieser Nacht nicht viel Schlaf. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich wie Raben über einem Feld voller gefallener Soldaten. Wie lange würde er wegbleiben? Er wusste es nicht. Einige Wochen? Kaum. Ein Jahr? Schon eher. Noch länger? Gut möglich. Wie würde er überleben können? Er merkte, wie sich sein Magen zu einem schmerzhaften Knoten zusammenzog.
Angst.
Er hatte Angst. Und er hasste das Gefühl.
Früh am nächsten Morgen stahl sich Alejandro aus seinem Zimmer. Der Morgen zeichnete sich erst durch ein schmales, helleres Band am Horizont ab. Es war eigenartig still auf dem sonst so geschäftigen Gut.
Alejandros Schritte knirschten laut auf dem Kies. Besser, er ging so schnell als möglich …
«Alejandro!»
Alejandro zuckte zusammen. Er kannte die Stimme, den Tonfall zu gut. Hinter ihm auf dem Hof stand grinsend Selenio. Sein nackter Oberkörper glänzte fahl im Mondlicht. Neben ihm die beiden Windhunde, knurrend, an ihren Leinen zerrend.
«Ich habe dir gesagt, du sollst mir besser nicht mehr unter die Augen treten», feixte Selenio. Als wäre die Zeit plötzlich zu zäher Melasse geronnen, sah Alejandro, wie Selenio seine Hand öffnete und die Leinen seinem Griff entglitten und dem Boden entgegenfielen, die Hunde zu rennen begannen, das Kies aufspritzen lassend, mit weit aufgerissenen Fängen, auf ihn zu.
«Cabrón …»
Alejandro wandte sich um, und begann zu rennen. Und er pfiff; und betete innerlich zu Rahja, dass sie ihm helfen möge, dieses eine Mal …
Er rannte entlang der Umzäunungen, seine Lungen brannten wie Feuer, er hörte die Hunde hinter sich, wie sie in langen Sprüngen immer weiter aufholen; er meinte schon, ihren heissen Atem in seinem Nacken zu spüren. Doch dann hörte er etwas neues: Das Donnern von Hufen. Er konnte die Pferde im fahlen Morgenlicht kaum ausmachen, doch sie kamen schnell näher - die ganze Herde, zuvorderst Paolito. Alejandro pfiff noch mal, so gut er es während des Laufens vermochte. Und wie als Antwort darauf hörte er Paolitos vertrautes Wiehern.
Doch noch immer holten die Hunde auf. Er spürte, wie sie nach seinen Waden schnappten. Seine Lungen begannen zu brennen, seine Beine schmerzten noch vom Abend zuvor, doch er rannte weiter, er würde sich nicht fangen lassen, oh nein. Untreue Hunde, wie oft hat er mit ihnen gespielt, und nun verrieten sie ihn …
Er rannte, und die Windhunde rannten hinter ihm, und die Pferde rannten hinter ihm, bis zum Ende der Koppel, und dann sah er es, wie Paolito über den Zaun sprang, während die anderen Pferde verlangsamten, er erreichte Paolito, sprang auf und gab dem Pferd die Sporren, den Hunden davonreitend, die wild kläffend hinter ihm zurückfielen, und Selenios Stimme reihte sich in das Kläffen ein, doch er kümmerte sich nicht mehr darum, er ritt davon, weg von all dem …
Erst als sein Pferd nassgeschwitzt war, liess er es in einen leichten Trab fallen, und später in einen langsamen Trott. Er ritt durch die Laubwälder Almadas, einem Pfad folgend, während die Natur um ihn herum erwachte. Der helle Streifen am Horizont wurde grösser und grösser, und von den Vögel jubilierend begrüsst. Der Wald lichtete sich, und er fand sich an einer Klippe wieder, von der aus er das gesamte Yaquirtal überblicken konnte. Unter ihm schlängelte sich gemächlich der grosse Yaquir durch das Tal, ein glitzerndes Band, in dem sich der stahlgraue Morgenhimmel spiegelte. Dahinter erhoben sich Weinberge, Wiesen und Wälder. In der Ferne zeichneten sich dunkel die zerklüfteten Spitzen des Raschtulswalls gegen die dunstigen Wolkenfetzen ab. Und in dem Moment stieg die Praionscheibe über den Horizont und begann, das Tal mit gleissendem Licht zu füllen.
Von diesem Moment an hatte er keine Angst mehr.